Studie Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt – Ausmass und Beweggründe

Erreichen die bedarfsabhängigen Sozialleistungen alle Berechtigten? Im Auftrag des Amts für Sozialbeiträge (ASB) des Kantons Basel-Stadt hat die Berner Fachhochschule, Departement für Soziale Arbeit (BFH), eine Studie zum Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen durchgeführt. Dahinter stand der Gedanke, dass eine nachhaltige Sozialpolitik nur funktionieren kann, wenn die Leistungen die Personen mit einem entsprechenden Bedarf auch erreichen. Wie die Studie aufzeigt, werden diese Leistungen jedoch nicht erschöpfend bezogen: je nach Art der Sozialleistung verzichten bis zu 29 Prozent der Berechtigten darauf, den Anspruch auf ihnen zustehende Leistungen geltend zu machen.

Für Haushalte mit wenig Einkommen stellen bedarfsabhängige Sozialleistungen eine wichtige Einkommensquelle dar. Sie eröffnen ihnen Handlungsmöglichkeiten und fördern dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In welchem Ausmass Leistungen diese Zielgruppe erreichen, ist jedoch in den wenigsten Fällen bekannt. In Grossbritannien oder Frankreich werden dazu bereits offizielle Statistiken erhoben. In der Schweiz weiss man weniger zum Thema. Das Bewusstsein, dass der Nichtbezug von Sozialleistungen überprüft werden sollte, nimmt aber zu.

Für den Kanton Basel-Stadt überprüfte die BFH nun die Zugänglichkeit von Prämienverbilligungen, Familienmietzinsbeiträgen und Ergänzungsleistungen von AHV-Rentenbeziehenden. Dazu ermittelte sie anhand verknüpfter Steuerdaten das Ausmass des Nichtbezugs und die Betroffenheit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Um mehr über die Gründe für den Nichtbezug zu erfahren, führte die BFH 21 qualitative Interviews mit Betroffenen durch. Die Studie liefert so die schweizweit erste Nichtbezugsschätzung von Ergänzungsleistungen zur AHV.

Sozialleistungen werden nicht erschöpfend bezogen

Bei allen drei Sozialleistungen konnten Personengruppen ausgemacht werden, die rechnerisch gesehen Anrecht auf die untersuchten Leistungen haben, diese aber nicht beziehen. Bei den Ergänzungsleistungen zur AHV liegt der Nichtbezug bei 29 Prozent, bei den Familienmietzinsbeiträgen liegt er bei 23 Prozent. Etwas tiefer ist die Nichtbezugsquote mit 19 Prozent bei den Prämienverbilligungen.

Durch eine sozioökonomische Analyse konnte festgestellt werden, dass der Nichtbezug besonders in der unteren Mittelschicht verbreitet und von der Bedarfslücke abhängig ist. Je kleiner die Bedarfslücke, also die Differenz zwischen erzieltem und dem maximal zu einem Bezug berechtigenden Einkommen, desto wahrscheinlicher ist ein Nichtbezug. Auch der Aufenthaltsstatus scheint einen Einfluss zu haben. So ist der Nichtbezug bei Ausländer*innen ohne Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) rund doppelt so wahrscheinlich.

Gründe für den Verzicht sind vielfältig

Anhand von qualitativen Interviews mit 21 Betroffenen konnten wertvolle Hinweise zu den Gründen des Verzichtes auf Sozialleistungen gewonnen werden.

Befragte Personen, die ein hohes Autonomiebedürfnis haben, verunsichert sind oder sich für ihre Situation schämen, beantragen keine Sozialleistungen, selbst wenn sie von ihrem Anspruch Kenntnis haben. Die befragten Personen verfügen über unterschiedliche Handlungsstrategien, um den Nichtbezug zu kompensieren, z.B. durch ausgeprägt sparsame Alltagsausgaben oder zusätzliche Einsparungen. Private Hilfeleistungen durch das soziale Netzwerk haben ebenfalls einen hohen Stellenwert. Dadurch steht manchen der interviewten Betroffenen zum Beispiel kostengünstiger oder -freier Wohnraum zur Verfügung. Die private Unterstützung kann auch in Form von Geldbeträgen erfolgen. Einige der Befragten im Pensionsalter sind zudem weiterhin erwerbstätig, um so über zusätzliche Einkünfte neben der knappen AHV-Rente zu verfügen.

Andere Nichtbeziehende sind sozial schlecht eingebettet, können kaum auf private Unterstützung zählen und verfügen über wenig Kenntnisse zu administrativen Abläufen sowie zu Sozialleistungen. Deren Nichtbezüge gründen entsprechend eher auf fehlendem Wissen, administrativen Hürden, mangelnden Sprachkenntnissen oder akut belastenden, überfordernden Lebenssituationen.

Schlussfolgerungen und Massnahmen

Eine nachhaltige Sozialpolitik sollte sich nicht nur um die Leistungsbeziehenden kümmern, sondern sich auch mit den Hürden des Bezuges auseinandersetzen. Die BFH hat daher verschiedene Empfehlungen für die Praxis aus der Studie abgeleitet, welche auf die niederschwellige und proaktive Information der Berechtigten fokussieren. Das ASB wird anhand der Studienresultate entsprechende Massnahmen umsetzen wie z.B. die Anpassung der Website und die Verbreitung der Informationen über diversifizierte Kanäle, z.B. in lokalen Quartierberatungsstellen.

Auskünfte:

Dr. Christine Kaufmann, Amt für Sozialbeiträge, Tel. 061 267 80 85, christine.kaufmann@bs.ch

Prof. Dr. Oliver Hümbelin, Departement Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule, oliver.huembelin@bfh.ch

Links:

Zur Berner Fachhochschule: Berner Fachhochschule - vielfältig und prazisnah (bfh.ch)

Zur vollständigen Studie «Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt – Ausmass und Beweggründe»: knoten-maschen.chf

Autorinnen und Autoren:

Oliver Hümbelin, Tina Richard, Claudia Schuwey, Larissa Luchsinger, Robert Fluder (2021).

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